Ich bin auch der Meinung, dass es absolut ok ist, das Baby in seinem eigenen Zimmer schlafen zu lassen.
Es ist wohl alles eine Frage der Intuition.
Naja. Also ganz so mystisch würde ich das nicht behandeln und ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob die Intuition da nicht doch vielleicht als mütterlicher Wunsch nach Autonomie verkannt wird (ein Wunsch jetzt erstmal nicht per se in Abrede gestellt werden soll - wer bin ich).
Dennoch: zunächst einmal kann man ja davon ausgehen, dass es evolutionsbedingt nicht zwangsläufig normal für einen Säugling ist, auf sich selbst gestellt zu sein. Weder unter Tage noch des Nachts. In der Bindungstheorie geht man zudem davon aus, dass das Alleinlassen durchaus Effekt auf die Entwicklung des Kindes hat. Wenn auch nicht unmittelbar und für jedermann ersichtlich.
Die Bindung veranlasst das Kleinkind, im Falle objektiv vorhandener oder subjektiv erlebter Gefahr Schutz und Beruhigung bei seinen Bezugspersonen zu suchen und zu erhalten.
Das sicherheits- und schutzbietende Verhalten der Bezugsperson wird dadurch auf repräsentationaler Ebene zunehmend durch ein inneres verfügbares Sicherheitsgefühl ergänzt und später ersetzt (Bretherton, 1999; Bretherton & Munholland, 2008; Main, 1994).
Man muss daraus nun keinen Umkehrschluss formulieren, dennoch ist es für Bereiche wie
- Urvertrauen
- Cortisolspiegel & Stressresistenz
- Bildung der Objektpermanenz/Objektkonstanz
- Selbstwertbildung, Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeitsgefühl
- Sozialkompetenz
- Kommunikationskompetenz
zuträglich, wenn das Kind insbesondere im ersten Lebensjahr, ganz besonders aber in den ersten Lebensmonaten eine enge Bindung erfährt. Und das impliziert meinem Verständnis nach auch ganz klar die Anwesenheit der Mutter in der Nacht.
Inzwischen ist erwiesen, dass sich das Schlafverhalten von Kindern von dem der Erwachsenen unterscheidet. Babys und Kleinkinder haben einen sehr aktiven Schlaf sowie ein zerstückeltes Schlafmuster mit vielen Übergängen (Tarullo et al., 2011).
Natürlich sind diese vielen nächtlichen Unterbrechungen für die Eltern sehr anstrengend, aber das typische kindliche Schlafmuster hat einen Zweck.
EVOLUTIONSBIOLOGISCHE BEGRÜNDUNG: DAS KIND SUCHT SICHERHEIT
Zunächst einmal kann man das häufige Erwachen des Kindes evolutionsbiologisch begründen. Kinder erwachen, um zu prüfen, ob sie in Sicherheit sind und eine Bezugsperson in der Nähe ist. Wäre dies nicht der Fall, wären sie im ursprünglichen Sinne der Natur und ihren Gefahren hilflos ausgeliefert. Auch Erwachsene wachen des Nächtens auf, um die Umgebung zu prüfen, können sich daran aber meistens nicht mehr erinnern.
Und noch ein Auszug aus dem "Familienhandbuch", quasi als Fazit und Schlusssatz:
Der gemeinsame Schlaf als Hilfe zur Selbstregulation
So unterschiedlich die menschlichen Kulturen rund um den Globus sind, in einem sind sie sich einig: Kleine Kinder gehören nachts in die Nähe ihrer Eltern. Mit einer Ausnahme: der modernen westlichen Welt. Da nehmen die meisten Eltern an, kleine Kinder sollten schon deshalb im eigenen Bettchen schlafen, weil sie sonst nicht selbstständig würden. (...)
Auch wenn es im Zeitalter sicherer und warmer Häuser keinen objektiven Grund mehr gibt, warum Mutter und Kind nachts zusammen schlafen sollten, so setzt dies die subjektiven Erwartungen der Kinder nicht unbedingt außer Kraft – sie leben ja mit ihren Emotionen gewissermaßen noch in der Steinzeit. Für sie ist das Schlafen bei den Eltern der »Normalzustand«.
Auf welche Seite schlägt sich das evolutionäre Denken? Ist das gemeinsame Schlafen von Mutter und Säugling immer das Beste, weil das Kind dies »erwartet«? Auch hier läuft es auf das bereits Angesprochene hinaus: Eltern haben ihre eigenen Interessen, und deren Berücksichtigung ist nicht von vornherein schlecht, vielmehr ist auch dies Teil der evolutionären Tagesordnung. Eltern sollten also die zu erwartenden Belastungen und Belohnungen kennen und dann nach denjenigen Kompromissen suchen, die am besten zu ihrem Lebensumfeld, ihren Kräften und Lebensentwürfen passen.
Autor: Dr. med. Herbert Renz-Polster, geb. 1960, ist Kinderarzt und Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg.