Was bedeutet "Kind sein"?

Begonnen von Fliegenpilz, 31. Mai 2016, 14:54:03

« vorheriges - nächstes »

Cloedje

Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluß,
der Fluß sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.

Als das Kind Kind war,
wußte es nicht, daß es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.

Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
saß oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim fotografieren.

Als das Kind Kind war,
war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, daß ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und daß einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?

Als das Kind Kind war,
würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis,
und am gedünsteten Blumenkohl.
und ißt jetzt das alles und nicht nur zur Not.

Als das Kind Kind war,
erwachte es einmal in einem fremden Bett
und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele Menschen schön
und jetzt nur noch im Glücksfall,
stellte es sich klar ein Paradies vor
und kann es jetzt höchstens ahnen,
konnte es sich Nichts nicht denken
und schaudert heute davor.

Als das Kind Kind war,
spielte es mit Begeisterung
und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch,
wenn diese Sache seine Arbeit ist.

Als das Kind Kind war,
genügten ihm als Nahrung Apfel, Brot,
und so ist es immer noch.

Als das Kind Kind war,
fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand
und jetzt immer noch,
machten ihm die frischen Walnüsse eine rauhe Zunge
und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem Berg
die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg,
und in jeder Stadt
die Sehnsucht nach der noch größeren Stadt,
und das ist immer noch so,
griff im Wipfel eines Baums nach den Kirschen in einem Hochgefühl
wie auch heute noch,
eine Scheu vor jedem Fremden
und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten Schnee,
und wartet so immer noch.

Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum,
und sie zittert da heute noch.

Peter Handke, der Himmel über Berlin.
Ich finde das ganz passend beschrieben. Wenn ich an meinen Sohn Theo denke, der jetzt bald 9 wird, dann wünschte ich mir manchmal, ihm von meinem erwachsenen Weitblick abgeben zu können, der seine, manchmal ganz fundamentalen Ängste vielleicht schmälern könnte. Sowas wie, natürlich komme ich wieder, wenn ich auf Reisen bin und ihn für ein paar Tage bei Papa und Schwester lassen muss. Natürlich wirst du morgen aufwachen und dein Tag kann schön werden, wenn du es willst und mitbestimmst, ...

Kind sein ist wahrlich nicht immer einfach und doch wünscht man sich oft als Erwachsener jene tolle, entspannte und unbeschwerte Zeit zurück ( sofern sie unbeschwert war), da man ja als Kind nicht weiss, dass das alles erst ein harmloser Anfang ist  s-:)

Cloedje

Solar. E

Ich würde das eher umgekehrt formulieren und sage: Wenn Eltern ihr Kind nicht Kind sein lassen, dann heißt das für mich, dass sie ihrem Kind zu früh zu viel Verantwortung aufladen. Die Grenzen, wann das der Fall ist, sind aber von außen meist gar nicht neutral bzw. nur schwer beurteilbar, eben weil das so eine individuelle Geschichte ist.
Subjektiv haben mich schon manche Dinge durchaus den Kopf schütteln lassen. Aber das ist dann einfach nicht meine Baustelle und vermutlich würde ich im umgekehrten Fall als die Glucke, die ihren Kindern zu wenig zutraut, betitelt werden  s-:)